Mehr als nur Erschöpfung: Haselünner Arzt erklärt, wie man eine Altersdepression erkennt
Da ist die 72-Jährige, die ihrer Frauengruppe mehrfach absagt, die ihren Garten vernachlässigt und sich zu schlapp fühlt, um mit den Enkeln zu backen. Oder der 81-Jährige, der nur noch in seinem Sessel sitzt, kein Interesse mehr an einem Gespräch hat und sich nicht mal mehr einen Kaffee machen will.
Manchmal reagieren Verwandte und Freunde dann mit gutem Zureden und machen vielleicht einfach das Alter verantwortlich. Hinter einer solchen Verhaltensänderung kann aber auch eine Altersdepression stecken. Davon spricht man, wenn die Betroffenen 65 Jahre und älter sind. „Eine Altersdepression ist keine normale Alterserscheinung“, sagt Dr. Gregory Hecht, Ärztlicher Direktor des St. Vinzenz-Hospitals Haselünne und Chefarzt der dortigen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.
Ein Drittel der Suizide in Deutschland begehen Menschen über 65
Es gebe Schätzungen, dass in Deutschland jeder zehnte Über-70-Jährige eine behandlungspflichtige Altersdepression habe, „viele Hunderttausende ältere Menschen“, betont der 51-Jährige. Besonders brisant findet der Chefarzt: Von den rund 10.000 Menschen, die in Deutschland jedes Jahr Suizid begehen, sind etwa 35 Prozent Menschen über 65 Jahre - obwohl sie nur etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.
Frauen seien deutlich häufiger von Depressionen betroffen, Suizide würden aber häufiger von Männern begangen, erklärt Hecht. Als hochgradig suizidgefährdete Gruppe gelten alleinstehende, ältere Männer mit Vorerkrankung.
Mehr Informationen: Unterstützung bei Depression und Suizidgedanken: Hier bekommen Sie Hilfe!Wenn Sie Suizidgedanken haben oder bei einer anderen Person wahrnehmen: Kostenfreie Hilfe bieten in Deutschland der Notruf 112, die Telefonseelsorge 0800/1110111 bzw. 0800/1110222 und das Info-Telefon Depression 0800/3344533. Weitere Infos und Adressen unter www.deutsche-depressionshilfe.de und www.telefonseelsorge.de. |
Schicksalschläge können Wahrscheinlichkeit von Depression erhöhen
Männer wie Frauen in diesem Alter erlebten oft Umbruchphasen: Der Renteneintritt nimmt die Tagesstruktur, Freunde und Angehörige sterben, Erkrankungen häufen sich. „Man bemerkt im Grunde das Nachlassen der eigenen Vitalität“, sagt Hecht. Dabei lasse sich eine depressive Episode nicht immer auf einen einzelnen Auslöser, wie etwa den Verlust des Ehepartners oder eine schwere Erkrankung, zurückführen. „Aber es erhöht die Wahrscheinlichkeit“, erklärt der Chefarzt.
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Die Altersdepression unterscheide sich dabei nicht von einer klassischen Depression und sei eine „schwere, ernstzunehmende Erkrankung, die zum Tode führen kann“, erklärt der 51-Jährige. Die Betroffenen fühlen sich hoffnungslos, leiden unter einer Antriebsstörung, Erschöpfung und Freudlosigkeit, ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück, haben vermehrt Ängste bis hin zu wahnhaften Vorstellungen und Suizidalität bei schweren Verläufen.
Betroffene gehen wegen körperlicher Beschwerden zum Arzt
Hinzukommen können Nebensymptome wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen oder ein vermindertes Selbstwertgefühl. Nur eine Besonderheit werde bei Betroffenen in höherem Alter häufiger beobachtet: Dass sie eher über körperliche Beschwerden, wie Schmerzen oder Verdauungsstörungen, klagen und deshalb zum Arzt gehen. Manche Patienten, die zu ihm in die Haselünner Klinik kommen, hätten eine ganze Odyssee an Arztkontakten hinter sich, weil sie fälschlicherweise glauben, schwer krank zu sein, berichtet der Ärztliche Leiter.
Aber wie können Angehörige unterscheiden, ob der eigene Vater einfach der Rücken plagt, er bloß keine Lust mehr auf sein Hobby hat oder tatsächlich depressiv ist? Hecht erklärt das so: Ein Mensch mit einer depressiven Erkrankung teile seinem Umfeld nicht einfach seine rationale Entscheidung mit, kürzerzutreten. Vielmehr sei er missmutig, „deutlich negativer als sonst“ und beschwere sich mehr, erklärt Hecht. „Da ist viel mehr los, als nur zu sagen: ‚Es wird mir zu viel‘“.
Zwei Faktoren seien entscheidend: Zum einen, ob der Alltag eines Menschen beeinträchtigt sei. Das könne auch in sozialer Hinsicht der Fall sein: Etwa wenn der Ehepartner bereits droht, sich zu trennen. Zum anderen der subjektive Leidensdruck eines Menschen. Hier rät Hecht Angehörigen, „dass man offen das Gespräch sucht und einfach fragt: ‚Wie geht es dir denn?‘“.
Konkret nach suizidalen Gedanken fragen
Besteht bereits die Sorge, derjenige könnte sich etwas antun, sollte auch das thematisiert werden. „Man macht nie etwas verkehrt, das Thema Suizidalität anzusprechen“, versichert Hecht. Es eröffne das Gespräch und „das wirkt ja schon entlastend“.
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Drohe jemand damit, sich das Leben zu nehmen, sollte sofort der Rettungsdienst gerufen werden, stellt der Chefarzt klar. Aber auch wenn die Antwort zum eigenen Befinden unkonkret ausfalle - „Ich bin schlecht zufrieden“, nennt Hecht ein Beispiel - sollten Angehörige raten, die Beschwerden abklären zu lassen. Zur Ersteinschätzung könne das auch beim Hausarzt passieren. „Das würde ich auch immer empfehlen“, betont Hecht.
Psychiatrische Ambulanz in Haselünne rund um die Uhr erreichbar
Viele seiner Patienten werden von Hausärzten geschickt. Eine Anlaufstelle ist außerdem die Notfallsprechstunde der psychiatrischen Institutsambulanz im St. Vinzenz-Hospital, wo rund um die Uhr ein Arzt präsent ist. Beratung für Betroffene wie Angehörige bietet auch der Sozialpsychiatrische Dienst des Landkreises Emsland, mit Standorten in Meppen, Lingen und Aschendorf. „Es gibt Hilfe“, betont der 51-Jährige.
Entscheidend ist für den Mediziner, dass Erkrankte eine Diagnose und entsprechend der geltenden Leitlinien eine Therapie erhalten. Dabei müsse nicht jeder Betroffene gleich stationär in die Klinik: „Die Therapie hängt vom Schweregrad ab“, sagt Hecht. Bei einer leichten Depression gebe es häufig keinen Grund, Medikamente zu geben.
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Für andere Betroffene könnten Psychopharmaka ein „Segen“ sein, wenn sie helfen, sie aus der Hoffnungslosigkeit zu holen. „Moderne Antidepressiva machen nicht abhängig“, fügt Hecht hinzu. Der Chefarzt hat viele Patienten, die nach ein paar Wochen die Klinik verlassen und von ihrer depressiven Episode vollständig geheilt sind. „Man kann die Depression gut behandeln“, versichert Hecht.
Er hofft, Menschen auch für Altersdepressionen zu sensibilisieren. Erst im Juli hatte der frühere Trigema-Chef Wolfgang Grupp für Aufsehen gesorgt, als er im Alter von 84 Jahren einen Suizidversuch öffentlich machte. Er sei ihm dankbar, dass er sich getraut habe, darüber zu sprechen, sagt Hecht. Eine Depression könne jeden treffen. „Das ist auch keine Schwäche“, betont der 51-Jährige. „Jeder einzelne verhinderte Suizid ist ein Segen.“
Quelle: NOZ, von Jana Schepers | 20.09.2025, 10:03 Uhr